Mitten im Leben
Es ist November. Zeit des Gedenkens und Erinnerns. Zeit zum Innehalten. Das ist die beste Gelegenheit, unseren neuen Blogartikel für die Lübeck ZWISCHENZEILEN einem Ort zu widmen, der weltweit in dieser Form einzigartig ist: dem Kolumbarium DIE EICHE An der Untertrave 34 in Lübeck. Mag sein, dass du dir als Ablenkung vom Novembernebel und von den Krisen rund um uns herum eher einen Tipp für ein gemütliches Café gewünscht hättest. Das Thema Erinnerung wirkt im ersten Moment so belastend. So sehr nach: nicht auch das noch. Nach: da habe ich gar keine Lust drauf. Das mag sein. Andererseits ist der Besuch historischer Friedhöfe und der Grabstätten berühmter Persönlichkeiten wie das Verweilen am Grab von Jim Morrison bei einem Besuch in Paris durchaus nichts Ungewöhnliches.
Ich kann dir versprechen, dass du das Kolumbarium gestärkt durch frische Gedanken und neue Impulse verlassen wirst. Das liegt an zwei engagierten und kreativen Menschen: Peggy Morenz und Michael Angern, die im Kolumbarium DIE EICHE eine neuartige Auseinandersetzung mit den großen Themen Leben und Sterben ermöglichen, die die Menschheit von Anbeginn aller Zeiten bewegen.
Die Eiche – Der Kornspeicher der familie Mann
In Lübeck gibt es drei Kolumbarien: eines auf dem Vorwerker Friedhof, eines in St. Jakobi unterhalb der Pamir Gedenkkapelle, wo Menschen, die sich der Seefahrt und dem Meer verbunden fühlen, ihren letzten Heimathafen finden und eben das Kolumbarium DIE EICHE, das im Mai 2024 an einem durchaus historischen Ort eröffnen konnte. Das Gebäude, das das Kolumbarium beheimatet, war einst der Kornspeicher der Familie Mann. Hier lagerte Getreide, das an Pferde verfüttert wurde. Ein gewinnbringendes Geschäft bis die Einlagerung von Getreide als Schüttgut mit der zunehmenden Motorisierung an Bedeutung verlor, da Kutschen und Wagen als Transportmittel überflüssig wurden. In seinem Roman „Buddenbrooks“ erwähnt Thomas Mann den Speicher, den sein Vater, der Senator Henry Mann, 1873 erbaute.
Das auffällige siebenstöckige Gebäude im neugotischen Stil war eines von sieben Speichergebäuden der Manns. Sie trugen übrigens allesamt einprägsame Namen wie Fisch, Adler und Löwe. So fanden sich damals die Schauermänner bestens zurecht. Zum Zeitpunkt der Übernahme durch das jetzige Eigentümerpaar war das Gebäude dringend renovierungsbedürftig. Nach der aufwändigen Restaurierung und Umgestaltung ist es mit seinen grünen Fensterläden nun ein beliebter Fotospot und offen für Hinterbliebene und all Jene, die neugierig sind oder sich einen Moment der Ruhe wünschen.
Lichtvolle Perspektiven
Ein Besuch im Kolumbarium eröffnet eine überraschend lichtvolle Perspektive auf das Leben. Hier, wo die Zeit scheinbar langsamer fließt und das Licht sanft über die Wände streicht, entsteht ein Gefühl der Geborgenheit. Es ist eine Atmosphäre, die dich dazu einlädt, dich deinen eigenen Gedanken hinzugeben. Das Interieur selbst wirkt so beruhigend: warme Farben, Holzbalken, zarte Schatten. Jeder Winkel dieses Ortes ist durchdacht, ein Raum für das Erinnern, für das Nachdenken und das Loslassen. Nichts haben Peggy Morenz und Michael Angern dem Zufall überlassen. Jahrelange Recherchen, Gespräche und fachliche Diskussionen sind in die Konzeption eingeflossen. Nicht beliebig zu sein. Das ist das Leitmotiv der Initiatoren, die sich bei der Ausgestaltung der Räumlichkeiten an dem besonderen Charakter des Gebäudes orientierten. Peggy hat ein untrügliches Gespür für Farben, Materialien und Formen.
Als erfahrene Produktmanagerin in der Porzellanbranche und Gestalterin von Porzellanurnen hat sie ihren ganz eigenen Stil entwickelt. Michael ist gelernter Förster und war als Unternehmer in der Entwicklung von Software für Bestattungsunternehmen tätig. Eine Nähe zum Thema Erinnern und Trauern, um das es im Kolumbarium geht, gab es also bereits lange vor der Realisierung ihres Projekts an der Untertrave.
Kontrapunkte – Werden und vergehen
In die zentrale Halle gelangst du über einen kleinen Zwischenraum, in dem dich eine Figur des Erzengles Michael erwartet, des Schutzpatrons und Bezwingers des Bösen, der mit seinem Schwert den Drachen der Finsternis (Luzifer) besiegte. Die Feierhalle erinnert an eine dreischiffige Basilika. Eine Lichtinstallation zieht dich beim Betreten in ihren Bann. Ihr warmes Licht nimmt dich sogleich gefangen.
Finde einen Platz auf einer der Holzbänke und lasse die Installation der schweizerischen Künstlerin Madlaina Lys auf dich wirken: 12.703 zerbrechlich wirkende Porzellanplättchen sorgen für die Streuung des Lichts. Wundervoll, dass du bereits hier ganz ins Spüren kommst: sind das aufsteigende Seelen? Oder womöglich weichflaumige Vogelfedern? Ich denke spontan an kleine Briefchen, die mit unseren Gedanken ins Jenseits fliegen.
Auffällig ist auch das filigrane florale Gesteck unterhalb der Lichtinstallation. Ausschließlich Pflanzen mit Bezug zu unserer Region und zur Jahreszeit werden in die Arrangements der EICHE einbezogen. Bei meinem Besuch sind es Pflanzen, die jetzt gerade im späten Oktober noch am Wegesrand grüßen.
Die Komposition ist locker gesteckt. Es werden so Details sichtbar, die in einem üppigen Blumengesteck nicht zur Geltung kämen. Die zurückhaltende Anordnung der Gräser und Blüten strahlt eine wohltuende Ruhe auf mich aus.
Vom Hausinstrument in der EICHE hatte ich noch nie gehört. Es handelt sich um eine Celesta. Auch hier fiel die Entscheidung nach einem längeren Abwägungsprozess. Den Charakter eines „dienenden“ Instruments – wie Peggy Morenz sagt – sollte das neben der Leuchte und den Blumen dritte prägende Element der Feierhalle haben. So wurde keine Orgel angeschafft, sondern eben eine Celesta, die auch als himmlisches Instrument bezeichnet wird. Peggy Morenz spielt mir den berühmten „Tanz der Zuckerfee“ aus Tschaikowskis „Der Nußknacker“ vor. Und ja: die Celesta gleicht mit ihrem zarten, belebenden Klang die Wirkung der massiven Holzbalken aus, die die Lagerböden tragen.
Fürchte nicht den Tod, sondern das unerfüllte Leben“
Sokrates, 469 v.Chr. – 399 v. Chr.
Lebenszeichen
In den beiden oberen Stockwerken befinden sich die Urnengräber, die ganz unterschiedlich gestaltet sind. Im großen zur Untertrave gelegenen Saal scheint es spiegele sich das Wasser der unten vorbeifließenden Trave in den Wänden. Ein schwerer Holztisch – auch er geschmückt mit einem floralen Gesteck – lädt dich dazu ein, dich zu setzen und deine Gedanken zu Papier zu bringen und in einen Brieftresor einzuwerfen. Niemand wird sie lesen, aber deine Gedanken werden Teil der Gesamtkomposition der EICHE.
Dafür sorgen, dass etwas bleibt. Dies ist die Motivation des Betreiberpaares. Die Friedhofskultur ist einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Häufig bleibt wenigstens noch ein Grabstein mit einem Namen. Doch immer mehr Menschen ließen sich heute anonym bestatten. Die Erinnerung an sie und ihr gelebtes Leben mit allem was es ausgemacht habe, sei dann „wie ausgelöscht“, sagen Peggy und Michael. Ihnen geht es um das Bewahren eines kulturellen Gedächtnisses. Jeder Mensch habe seine ganz eigene Geschichte. Diesen Geschichten wird in Text, Bild oder Objektform in den Räumlichkeiten der EICHE Raum gegeben. Erinnern in kulturellem Kontext – das gelingt auf geradezu magische Weise in den vier Galerien und den vier Bibliotheken, die den Themen der Menschheit gewidmet sind. So gibt es vor den Urnengrabkammern kleinformatige Vitrinen, in denen Erinnerungen inszeniert werden können.
Einige der Nischen sind bereits mit inszenierten Erinnerungen gefüllt. Etwa 40 Beisetzungen gab es seit der Eröffnung im Mai. Jede Einzelne ist sorgfältig gestaltet und mit liebevoll platzierten Erinnerungen versehen. Und du fragst dich sogleich: Was bleibt? Was möchte ich der Welt hinterlassen? Was kann ich heute tun, damit es gute Gedanken sind? Hier geht es tatsächlich um das Leben. In der Betrachtung entsteht auch ein Gefühl von Dankbarkeit, von einer tiefen Verbundenheit mit denen, die gegangen sind, und mit denen, die noch leben. Das Kolumbarium macht das eigene Dasein spürbar und schenkt gleichzeitig Trost: Der Gedanke, dass alles Vergängliche seinen Platz hat, kann wie ein weiches Licht die eigene Seele erreichen.
Türen, die inspirieren
In einem weiteren Bereich sind die Fronten der Urnenkammern mit Fotomotiven versehen, die Türen zeigen. Die Bilder des Lübecker Fotografen Thorsten Wulff sind in schwarz-weiß gehalten. Viele der Bilder sind noch Platzhalter vor freien Urnengräbern. Auch hier kommen Peggy, Michael und ich gleich in den Austausch zu den Assoziationen, die das Thema „Türen“ hervorruft: die Tür, die eine Veränderung und einen Neuanfang symbolisiert. Jene, die offen steht und Freiheit verheißt. Die, die vor dem Draußen schützt. Die Türen, durch die wir in unserem Leben nicht gegangen sind.
Das gewicht der Seele
Wusstest du, dass deine Seele womöglich 21 Gramm wiegt? Ich höre zum ersten mal von dieser Theorie. Michael berichtet, dass der amerikanische Arzt Duncan MacDougall zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Mysterium des Todes zu ergründen. Seiner Theorie zufolge müsste der Körper leichter werden, wenn im Augenblick des Todes etwas von ihm weicht. Um dieser Hypothese nachzugehen, konstruierte MacDougall eine hochpräzise Waage, die in der Lage war, das Gewicht eines Bettes samt darin liegender Person bis auf 3 Gramm genau zu messen. Demnach verloren die Sterbenden exakt 21 Gramm.
Für MacDougall war dies ein unwiderlegbarer Beweis: Eine Seele existiere tatsächlich und verlasse den Körper im Augenblick des Todes – und sie wiege genau 21 Gramm. Einer wisenschaftlichen Bestätigung hält diese Theorie zum Gewichtsverlust eines sterbenden Menschen nicht Stand. Im Kolumbarium wird der Gedanke auf herzerwärmende Art aufgegriffen: schafwollene Kokons mit genau 21 Gramm Gewicht erinnern hier an Sternenkinder.
Ich möchte dich ermuntern, der EICHE einen Besuch abzustatten. Ich kann dir hier nur einen ganz kleinen Eindruck dessen vermitteln en, was dich erwartet. Geschichten über Geschichten. Peggy Morenz und Michael Angern möchten, dass nicht nur Trauernde und Hinterbliebene hierher kommen. Einladende Sofas und Sessel stehen für dich bereit. Die sorgsam kuratierten Bibliotheken warten ebenso auf dich wie 100 überlegt platzierte Originalkunstwerke, die genau wie die Blumenarrangements und das Celesta in der Feierhalle eine bereichernde Funktion haben und nicht im Vordergrund stehen sollen. Daher sind die Erschaffer:innen der Werke auch nicht ausgewiesen. Vor Ort kannst du jedoch eine Broschüre über die einzelnen Werke und die Künstler:innen zurate ziehen.
Möglich ist ein Besuch ebenfalls im Rahmen eines Konzerts oder einer Lesung. Aktuell bietet sich das Schauspiel „Letzte Lieder“ des Lübecker Theaters im Kolumbarium DIE EICHE an. Öffentliche Führungen finden jeden ersten Dienstag im Monat ohne Anmeldung zur „Blauen Stunde“ um 17 Uhr statt. Alle Führungen sind kostenfrei. Alle Infos dazu findest du auf der Website der EICHE.
Unser Rundgang endet vor einem Gemälde. Ein Stilleben, das mich in seinen Bann zieht. „Fülle“ ist der erste Begriff, an den ich denken muss. An Sattsein und doch noch etwas Appetit haben auf Mehr. An dieses Gefühl, das so nur Abende bei Tisch mit Freund:innen und Familie bewirken können.
DIE EICHE ist ein Kraftort. Ein Schatz in der UNESCO Welterbe-Altstadt. Ein Geschenk, dass Peggy Morenz und Michael Angern Lübeck und uns allen gemacht haben.
P.S. Zum Schluss noch zwei besondere Tipps:
Tipp Vor ort
Bis 23. Februar 2025 zeigt die Sammlung Kulturen der Welt im Industriemuseum Herrenwyk in Lübeck die sehenswerte Ausstellung „Bestattungskulturen in Lübeck und der Welt.“
Infos zur Ausstellung
Der Beitrag über das Kolumbarium „Die Eiche“ ist hervorragend recherciert und sehr ansprechend geschrieben.
Danke für dieses positive Feedback. Kein Thema, über das sich unbeschwert schreiben lässt.