Heute konnte ich einen exklusiven ersten Einblick in die bewegende Ausstellung des Günter Grass-Hauses in der Glockengießerstraße 21 nehmen, das sich regelmäßig Künstler:innen widmet, die sich als Multitalente einen Namen gemacht haben. Bryan Adams‘ Motive sind in diesen beunruhigenden Zeiten aktueller denn je. Die Ausstellung ist DAS kulturelle Highlight des Herbstes in Lübeck.
Ganz ehrlich: mein Kopf funktioniert ganz wunderbar, aber leider sehr mainstream! Du sagst „Bryan Adams“ und ich sage „Summer of 69“ und habe den Song sofort im Kopf. Er wurde – Stand heute – allein bei Spotify 1.042.262.120 mal gestreamt. Auch ein paar der ikonischen Portraits von Kate Moss, Amy Winehouse, Mick Jagger, Ben Kingsley oder Queen Elizabeth II hatte ich vor Augen als ich von der neuen Fotografie-Ausstellung im Grass-Haus erfuhr und wusste, dass er als Modefotograf u.a. für Harper’s Bazaar, Esquire oder die British Vogue gearbeitet hat und mehrfach ausgezeichnet wurde.
Dass der Ausnahmekünstler mit seinen Kontakten in der Welt der Musik und der Mode berühmte Menschen portraitiert hat, finde ich nicht wirklich überraschend. In der Preview der Lübecker Ausstellung konnte ich mich jedoch mit dem sehr viel breiteren Spektrum der Arbeiten des kanadischen Rockmusikers und der Tiefe seiner Werke vertraut machen..
Bryan Adams im Günter Grass-haus
Wir sind alle Menschen, wir sind alle interessant
Seit den späten 1990er Jahren arbeitet Adams als professioneller Fotograf. Seine Leidenschaft für die Fotografie begann bereits in der Kindheit. Damals nutzte er die Kameras seiner Eltern. Die meisten frühen Fotos des 1959 geborenen Musikers waren Schwarzweiß-Aufnahmen. Für seine erste Tournee kaufte er sich eine Canon-Kamera, um das Geschehen auf und rund um die Bühne herum zu dokumentieren. Später kreierte er die Cover für seine Platten selbst. Und immer stärker rückten dabei Menschen in den Fokus seiner Aufmerksamkeit und er begann, seine Bekanntheit zu nutzen, um sich für politische und gesellschaftliche Themen einzusetzen. Bis heute fördert Bryan Adams, der als zurückhaltender und scheuer Mensch gilt, mit seiner Arbeit soziale Projekte.
Die Ausstellung in Lübeck, die speziell für das begrenzte Platzangebot im 1. Stock des Günter Grass-Hauses konzipiert wurde, gliedert sich in drei Werkgruppen mit den Überschriften Homeless, Exposed und Wounded – The Legacy of War. Die gezeigten Werke stammen aus Fotobänden, die im Steidl Verlag erschienen sind.
Ganz bewusst wird hier der Kontrast zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Celebrities auf der einen und unbekannten Menschen auf der anderen Seite gesetzt. Gemeinsam ist den Werken, dass sie alle Menschen zeigen. „Wer kann schon sagen, warum jemand auf der Bühne landet und jemand anderes auf der Straße“, so Bryan Adams in einem Interview in diesem Jahr.
Wer kann schon sagen, warum jemand auf der Bühne landet und jemand anderes auf der Straße
Bryan Adams
Homeless – Sieh‘ hin
Die Anregung, eine Porträtstory über obdachlose Straßenverkäufer für die Zeitschrift The Big Issue zu fotografieren, kam von Trudy Styler, der Ehefrau des australischen Musikers Sting. The Big Issue ist eine Wochenzeitschrift, die von professionellen Journalist:innen und Fotograf:innen erstellt und auf der Straße verkauft wird, um Obdachlosen ein legales Einkommen zu verschaffen und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern.
Bryan Adams widmete infolge dieser Anregung Menschen, die auf den Straßen Londons lebten und das Magazin verkauften seinen fotografischen Blick. Die Menschen, denen fast alle Vorbeigehenden kaum einen Blick schenken. Denen nur Wenige in die Augen schauen. Nichts lenkt in den Aufnahmen der Personen vor weißem Hintergrund ab. Die abgebildeten Obdachlosen werden als Individuen mit ihrer menschlichen Würde sichtbar.
Exposed – erzähle deine eigene Geschichte
Als Weltstar zeigt Bryan Adams in der Serie Exposed andere kreative Persönlichkeiten, deren Portraits häufig ikonographisch aufgeladen sind. Gemeinsam mit den Künstler:innen entwickelt er diese Szenen und bietet diesen so die Chance, das Narrativ über die eigene Person selbst zu definieren.
Bryan Adams scheint dabei in die tieferen Schichten der Psyche einer Person durchzudringen. Seine Arbeiten wirken intim und distanziert zugleich. In der Ausstellung bewegt mich besonders ein Farbportrait von Amy Winehouse, das die so jung verstorbene Sängerin als nachdenkliche Persönlichkeit zeigt.
Wounded – The Legacy of War
Als Bryan Adams von der ITN-Journalistin Caroline Froggatt angesprochen wurde, ob er nicht etwas für die Veteranen tun möchte, die aus dem Krieg im Irak zurückkamen, entwickelte er die Idee, Soldat:innen, die während des Einsatzes oder im Training verwundet worden waren, zu portraitieren. Die Fotos dieser Menschen, die lebensverändernde Verletzungen erlitten haben, sind gleichermaßen direkt und mitfühlend.
Alle strahlen eine große Würde aus. Es ist inspirierend zu sehen und in den Begleittexten zu lesen, dass ein schreckliches Ereignis nicht nur grausam ist. Es kann gelingen, aus einer belastenden Erfahrung eine neue Stärke zu ziehen. Das Motiv „Unscarred“ zeigt beispielsweise einen jungen Soldaten, der bei seinem ersten Einsatz im Irak als 18-jähriger von einer Benzinbombe getroffen wurde und sich nach 16 Operationen für sein erstes Tattoo entschied: „Unscarred“ – narbenlos. Mein Körper mag Narben tragen, meine Psyche aber ist nicht verwundet.
Diese sechste Fotoausstellung des Günter Grass-Hauses schlägt immer wieder auch den Bogen zu Günter Grass, der im April 1945 verwundet wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg in Düsseldorf selbst Obdachlosigkeit erlebte, als er in einem Caritasheim lebte und die dort lebenden Bewohner zeichnete.
Die Audiotexte zur Ausstellung spricht der bekannte Schauspieler Devid Striesow, der derzeit in der Neuverfilmung des Remarque-Klassikers „Im Westen nichts Neues“ als General Friedrichs zu sehen ist.
Die Ausstellung geht unter die Haut. Sie regt zum Nachdenken an. Darüber wie wir miteinander umgehen und was wir einander zumuten. Krieg und Obdachlosigkeit sind Themen, denen wir uns nicht gern stellen, die uns jedoch täglich begegnen. Dem verantwortlichen Museumsteam um Museumsdirektor Dr. Jörg-Philipp Thomsa ist es gemeinsam mit der Hamburger Agentur „Crossover“ gelungen, dem Gast der Ausstellung den Eindruck zu vermitteln, dass Mensch zu sein bedeutet, gleichermaßen verletzlich und stark zu sein. Ein motivierender Gedanke, mit dem ich heute das Günter Grass-Haus verlasse. Die Ausstellung läuft vom 15. Oktober 2023 bis 7. Januar 2024.
Übrigens: Für die aktuelle Ausgabe unseres Podcasts Lübeck ZWISCHENTÖNE waren wir ebenfalls vor kurzem vor Ort. Höre hier in das Interview rein.