Mid-Century-Design in Lübeck
Die Beckergrube ist eine Straße in Lübecks Altstadt, durch die es sich nicht so einfach gelassen schlendern lässt. Sie ist auf den ersten Blick keine Schönheit und wird daher häufig unterschätzt. Was schade ist, denn bei genauerem Hinsehen findest du hier einen bunten Mix: ein Antiquariat, eine alteingesessene Weinhandlung, einen Plattenladen, eine Buchhandlung, einen Herrenausstatter, das Lübecker Theater, Restaurants mit internationaler Küche und eine traditionsreiche Papeterie. Und einen ganz besonderen aber leicht verborgenen Schatz: das RETROHOUSE von Andy Czapura im Hof des Hauses Beckergrube 55.
Seit 15 Jahren ist Andy Czapura dort bereits ansässig. Was zur Eröffnung noch als Geheimtipp gehandelt wurde, hat sich inzwischen in Norddeutschland herumgesprochen. Denn ein solch spezielles Geschäft wie das RETROHOUSE ist in Deutschland eine Rarität: die wohl größte Sammlung von Retro- und Vintagedesign mit mehr als 2.000 Artikeln und über 1.000 Leuchten aus den 1950er, 60er, 70er und 80er Jahren sind im Angebot – ausschließlich Originale und Unikate. So besonders wie die Ausstellung mit Verkauf sind auch die Öffnungszeiten: Andy Czapura hat ausschließlich samstags von 11 bis 16 Uhr geöffnet.
Und so war ich zwar bereits unzählige Male an den leuchtend orangefarbenen Schildern, die auf das RETROHOUSE hinweisen, vorbei gekommen, habe es aber erst jetzt geschafft, den Design-Fachmann für ein Interview für die Lübeck ZWISCHENZEILEN zu treffen und mir den Show-Room anzuschauen. Und aus einem ganz normalen Samstagvormittag wurde eine kleine Zeitreise ins vergangene Jahrhundert und die Welt des Mid-Century Designs.
Eine Liebe auf Mallorca
Andy Czapura lebte Anfang der 2000er Jahre in Spanien. Er betrieb auf Mallorca eine Werbeagentur, war also durchaus bereits affin für Farben, Formen und Muster.
2004 traf ihn die Liebe wie ein Blitz: die zu einer Vintage-Lampe, genauer einer Space-Age-Tulip Lampe, die ihn inzwischen allerdings leider verlassen hat. Sie ist zerbrochen. Nicht losgelassen hat Andy Czapura seit jenem denkwürdigen Kauf jedoch die Liebe zu coolen Designs aus der Mid-Century-Ära. Es wuchs sein Wunsch, ein eigenes Geschäft zu besitzen, um Objekte berühmter Designer:innen oder einfach nur originelle Stücke anzubieten.
2006 kam der gebürtige Lübecker zurück in seine Heimatstadt und startete mit einem Online-Handel. Er stöberte Schönes im Internet auf, las sich in die Materie ein, tauchte in die Szene ein und knüpfte Kontakte. Die nunmehr bereits 20 Jahre währende Liebe zu Design-Objekten hat ihn zu einem Fachmann insbesondere in Sachen Lampen und Leuchten werden lassen.
2009 war endlich der große Tag gekommen: der Online-Handel bekam ein Geschwisterkind im echten Leben als das RETROHOUSE die Räume in der Lübecker Altstadt bezog.
Und es ward Licht
Beim Betreten des RETROHOUSE stehe ich urplötzlich im Licht. Tütenlampen, Kugellampen, Tischleuchten, Pendelleuchten, Kronleuchter, Wandleuchten, Stehlampen. Fließende, organische Kurven und geometrische Formen. Designobjekte aus Deutschland, Europa und sogar den USA. Teils sehr seltene Stücke von berühmten Designer:innen, aber auch Originelles aus dieser Zeit..
Klarglas, Milchglas, Buntglas, Bleikristall und geätztes Glas. Dazu ausgewählte Möbelstücke, hochwertige Vasen und Accessoires in Regalen, auf Nähtischchen, Blumen-Etageren und auf Beistelltischchen. Die ganze Fülle der verfügbaren Artikel kann ich zunächst gar nicht erfassen. Ein Flash aus Stimmungen und Farbe.
Jedes Stück könnte eine Geschichte erzählen. Da die Objekte aber stumm sind, fungiert Andy als Dolmetscher. Er stellt mir einige besondere Stücke vor: Die nah am Eingang stehende Mid-Century Teak-Stehlampe von Georges Frydman für Temde aus den 1960er Jahren in schnörkellosem Design. Die sehr seltene Vintage-Stehleuchte mit 9 Milchglas-Schirmen von Kaiser, die ein weiches Licht zaubert. Und die skulpturale Leuchte des Designers Gaetano Sciolari aus poliertem Messing mit 21 Lampenfassungen.
Und natürlich auch eine PH5, die klassische Pendellampe des dänischen Designers Poul Henningsen für Louis Poulsen, die für vollkommen blendfreies Licht sorgt. Andy Czapura vergleicht Henningsen mit Stradivari. Wie der berühmte italienische Geigenbaumeister habe auch Henningsen jahrelang an den Details seiner Leuchten gearbeitet.
Andy Czapura kauft ausschließlich das, was ihn begeistert. Wenn er sich in ein Stück verliebt, ist es seins, ganz gleich, was Andere davon halten. An einer Lampe hängt sein Herz ganz besonders: einer extrem seltenen weißen Tischleuchte mit einem 360° verstellbaren Globus aus mattiertem Glas und einer verchromten Metallumrandung von Cini Boeri für Dino Gavina aus Italien aus den 1970er Jahren. Sie ist unverkäuflich.
Details sind keine Details. Sie machen das Produkt.“
Charles O. Eames
Objekte, die berühren
Ins RETROHOUSE kommen sehr verschiedene Menschen. Solche, die modern eingerichtet sind und nach einem Herzensstück suchen. Manche, die bei ihm mehrere Stunden stöbern und nach einem wertigen Objekt Ausschau halten. Junge Leute, denen Nachhaltigkeit wichtig ist. Kund:innen, die in einem Film oder einem Magazin etwas gesehen haben, das ihnen nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Nachfrage ist gleichbleibend groß.
Und es kommen auch Besucher:innen, die einfach nur den Blick zurück genießen und in die Vergangenheit zurückgetragen werden möchten. Deren Erinnerungen auf einen Schlag wieder lebendig werden. „Schau mal diese Lampe hatte auch Tante Anni.“
Andy Czapura erkennt meist ziemlich schnell, wer da sein Geschäft betritt. Mit einem Schmunzeln erzählt er mir, dass es beim Lampenkauf oft nur zwei Typen Käufer:innen gäbe, nämlich die, die eine Lampe fast so wie einen Partner fürs Leben – also etwas wirklich Besonderes – suchen und jene, die im Grunde einfach nur Licht benötigen. Letztere kommen eher selten. Ich bin nicht ganz sicher, zu welcher Gruppe ich gehöre. Klar ist, dass ich die Retro-Reise in die Zeit genieße, als vieles in meinem Leben orange und braun war.
Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte vom retrohouse
Der Austausch mit dem RETROHOUSE-Inhaber ist einfach nur eine große Freude. Er liebt diesen Ort, den er geschaffen hat. Mit großer Akribie recherchiert er zu jedem Artikel Hintergrundinformationen, kontaktiert die Designer:innen – sofern sie noch leben – und teilt sein Wissen sehr gern. In den letzten Jahren hat er seine Leidenschaft für die Fotografie entdeckt. Neben dem Verkaufsraum lichtet er in seinem Fotostudio jedes Objekt ab, um es online bestmöglich präsentieren zu können. Die Fotos, die ich vor Ort gemacht habe, werden den Stücken auch nicht ansatzweise gerecht. Schau einfach mal in diese Liste und du wirst verstehen, was ich meine.
Als ich das RETROHOUSE verlasse, nehme ich die Fragen mit, die Andy Czapura sich immer wieder stellt: Womit möchtest du dich in deinem Leben umgeben? Was lässt dein Herz schneller schlagen? Nur das zählt.
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