Schleswig-Holstein Musik Festival 2022

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Barbara Schwartz

Meine musikalische Pralinenschachtel

Und wieder ist Festivalsommer. Jedes Jahr steigt schon Monate im Voraus bei mir die Vorfreude auf die Veröffentlichung des Programms des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Jedes Jahr versuche ich auf’s Neue, einen Konzert-Mix aus Bekanntem und Neuem zusammenzustellen. 2022 werden mehr als 200 Konzerte mit rund 3.000 mitwirkenden Musker:innen geboten.

Mich erinnert die Konzertsaison zwischen den Meeren an das bekannte Filmzitat aus „Forrest Gump“: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man kriegt. Beim SHMF bekommt man sehr oft genau die Praline, die man liebt und alles ist perfekt. Manchmal sind die Lieblingskonzerte schon ausverkauft und man entscheidet sich für ein Konzert, das dennoch ganz gut passen könnte. Wie bei der Praline, die in deiner Schachtel nicht die erste Wahl ist, dann aber überraschenderweise fantastisch schmeckt. Und klar: es gibt auch die Sorte, die du eigentlich gar nicht magst, die du am Ende doch in den Mund steckst und du bist nicht überrascht, dass sie dich nicht umhaut.

Starry Night  – Percussion-Himmel auf dem Kultur Gut Hasselburg

Tatsächlich eine Praline aus meiner Schachtel, die mich wegen der gewagten Mischung der angekündigten Stücke gelockt hat: „Thunderstruck“ von AC/DC und das „Wiegenlied“ von Brahms. Wie – um Himmels Willen – könnte das jemals zusammenpassen? Gut Hasselburg bot sich an diesem 2. Juli im sommerlichen Sonnenglanz genauso wie der Festivalgast es liebt. In sattem Grün und Backsteinrot, herrschaftlich und doch lässig. Überall Menschen mit Picknick-Körben auf den Grünflächen zwischen den Kavaliershäusern.

Hasselburg Buehne

In der Scheune bewiesen Alexej Gerassimez und das SIGNUM Saxophonquartett musikalische Vielseitigkeit und Experimentierfreude. Sie führten das Publikum durch die „Sternennacht“ und fremde Galaxien. Das Projekt verlangte dem Publikum jedoch durchaus Geduld und eine Portion Neugier ab. Beim ersten Stück „Rebirth« dachte ich, die Musiker stimmten erst noch ihre Instrumente. Später las ich die Subheadline, die da lautet „Exploring Chaos“ und mir wurde manches klar.

Das nächste Stück „Connectom“ setzte sich mit der Frage auseinander, was wohl passieren könnte, wenn einst das menschliche Bewusstsein in eine Cloud hochgeladen wird. Das aus drei Sätzen bestehende Stück erinnerte mich zeitweise an Arnold Schönbergs atonale Phase. Aber der Upload eines Bewusstseins wird mit Sicherheit nicht ohne gelegentliche Abstürze funktionieren, weshalb diese psychedelische Komposition des Neuseeländers John Psathas durchaus zum Nachdenken anregte. Das nachfolgende „Wiegenlied“ von Johannes Brahms, dem in diesem Jahr die Komponisten-Retrospektive gewidmet ist, und John Williams „Cantina Band“ aus „Star Wars“ begeisterten das Auditorium ebenso wie Debussys „Clair de Lune“. „Thunderstruck“ passte übrigens perfekt ins Programm. Faszinierend, wie das AC/DC-Stück ganz ohne die berühmten Gitarrenriffs von Angus Young auskommt. Percussion at its best!

Festivalstimmung mit Ostsee-Blick

Den Auftakt zu den elf Konzerten aus der Reihe Lübeck-Musikfest wollte ich mir keinesfalls entgehen lassen. Das denkmalgeschützte Jugendstilgebäude des Atlantic Grand Hotel und vor allem der Ballsaal boten den stilvollen Rahmen, der es mir leicht machte, gedanklich in das Wien zu Zeiten von Johannes Brahms zu reisen. Der Stuck an den Decken, die prächtigen Leuchter und der einzigartige Blick auf die Ostsee ließen vor meinem geistigen Auge sich im Walzer wiegende elegant gewandete Damen und Herren entstehen.

Walzer wurde nicht geboten, Brahms stand mit dem Streichquintett G-Dur op 111 und dem Klavierquintett f-Moll op. 34 im Fokus des Konzertabends. Meisterhaft dargeboten von Daniel Hope und seinen Freunden, darunter der weltberühmte Violinist Pinchas Zukerman, der schon zu Lebzeiten in einem Atemzug mit den größten Geigern des 20. Jahrhunderts genannt wird und den Daniel Hope seit seiner Kindheit bewundert: „Die Musik verführte meine Ohren, mein Herz und meine Seele“, so Hope.  Mich begeisterte das Klavierquintett, das beinahe sinfonisch anmutete, voller Energie steckte und in einen leidenschaftlichen Dialog zwischen Klavier und Streichinstrumenten mündete. Grandios!

Atlantic Ensemble

Gratis dazu gab es einfach alles, was für mich einen großartigen Konzertabend ausmacht: die glänzenden Lackschuhe von Daniel Hope und die silbernen Stilettos (klar, dass die mir aufgefallen sind) der kanadischen Cellistin Amanda Forsyth, die auf einem Cello des Italieners Carlo Giuseppe Testore aus dem Jahr 1699 spielte. Die Notenwenderin, die Shai Wosner am Klavier unterstützte. Das leise Hüsteln in den Pausen zwischen den Sätzen aus dem Auditorium. Das Kopfnicken, mit dem sich die Musiker:innen beinahe unbemerkt untereinander abstimmten. Am Ende gab es stehende Ovationen der Gäste im ausverkauften Saal. Dieser Abend glich einem edlen Trüffel mit feiner Chili-Note.

Früh und spät in der Carlebach-Synagoge in Lübeck

Dieser Sonntagnachmittag war schon wieder Johannes Brahms gewidmet. Ich weiß…. Es erklangen seine Cellosonate op. 99 und das Klaviertrio in H-Dur. Das Klaviertrio ist meine Marzipan-Praline: nicht zu süß, mit einer bewährten Mischung aus heller und dunkler Edelkakao-Schokolade. Das Trio ist ein wahrhafter Klassiker aus den ersten Schaffensjahren, den Brahms am Ende seines Lebens noch einmal komplett überarbeitet hat.

Synagoge Trio

Die Wahl der Carlebach-Synagoge als Veranstaltungsort unterstreicht, dass „Thinking outside of the box“ bis heute eines der Leitmotive des Festivals ist. Die Lübecker Synagoge wurde zwischen 1878 und 1880 nach Vorbild der Berliner Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße errichtet. Während der Reichspogromnacht 1938 wurde sie im Innern verwüstet, das Gebäude selbst blieb verschont. Die reich verzierte Fassade im maurischen Stil mitsamt der prächtigen Kuppel rissen die Nationalsozialisten ab. Zurück blieb ein schlichter Backsteinbau. Nach Kriegsende nahm die Synagoge ihre Funktion wieder auf. Ich empfinde es einfach nur als tragisch, dass die Lübecker Synagoge rund um die Uhr Polizeischutz benötigt und dass es nur sehr selten Möglichkeiten gibt, sie zu besuchen. Welche Freude daher, das sonntägliche Konzert im Gebetssaal mit Blick auf den Thora-Schrein genießen zu können.

Jetzt brauche ich wirklich aber mal ein Kontrastprogramm. Meine Wahl ist auf das Konzert von Danger Dan am 9. August im Werftquartier gefallen, der als reflektierter Rebell und selbstkritischer Rapper gilt. Ich hoffe, dass du neugierig geworden bist und dich jetzt voller Eifer ins diesjährige Programm vertiefst. Es gibt ganz bestimmt noch Karten!

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Barbara Schwartz

Kennst du das auch? Du kommst an einer Inschrift, einer Skulptur oder einer Gedenktafel vorbei und musst einfach stehenbleiben, um herauszufinden, was es damit auf sich hat? So geht es mir. IMMER! „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“ Ich kann Goethe an dieser Stelle nur hundertprozentig zustimmen. Genau deshalb möchte ich nie aufhören, das nur scheinbar Unwichtige aufzuspüren, Zusammenhänge zu erkennen, Neues zu erfahren und Menschen und ihren Geschichten auf die Spur zu kommen. Okay und zu lange Sätze zu schreiben .. . Und neue Sprachen zu lernen natürlich ...

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