Ausgerechnet St. Marien? Diese Kirche, die als „Mutter der Backsteingotik“ hundertfach beschrieben wurde? Gibt es denn irgendwelche neuen Erkenntnisse aus Archäologie, Kunsthistorie oder Kirchenmalerei, die diesen Artikel rechtfertigen? Um ehrlich zu sein: nein. Der Grund für meinen heutigen Besuch in dieser weltweit einzigartigen Backsteinbasilika ist ganz profan: es ist einer meiner liebsten Orte in Lübeck. Sehr gern möchte ich dich in den Kirchenraum mitnehmen und dir sieben Anregungen für deinen nächsten – oder deinen ersten – Besuch in St. Marien geben. Meine Marien-Momente.
7 Türme – 7 Tipps
Die gedenkkapelle – ein Mahnmal
In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 wurde Lübeck von Fliegereinheiten der Royal Airforce angriffen. Viele historische Gebäude, fast ein Fünftel der Altstadt und nahezu alle Innenstadtkirchen fielen dem Vergeltungsschlag eines 1940 vorhergegangenen deutschen Luftangriffs auf die Kathedrale von Conventry zum Opfer oder wurden schwer beschädigt. Die Glocken von St. Marien heute liegen bis heute in der Gedenkkapelle von St. Marien so, wie die Wucht sie aus 60 Metern Höhe hinabgeschmettert und in den Boden eingegraben hat. Es heißt, dass die Entscheidung, die Glocken an diesem Ort zu belassen, eine spontane Idee der Menschen war, die damals mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren. Und tatsächlich ist der Anblick der Glocken zutiefst bewegend.
Links vorn – nah am Gitter – erblickst du ein aufgeschlagenes Gedenkbuch.
Lübeck nahm infolge des Zweiten Weltkrieges etwa 100.000 Vertriebene und Geflüchtete auf.
Die Bevölkerungszahl hatte vor dem Krieg bei 140.000 Einwohner:innen gelegen. Zur Gedenkkapelle in St. Marien kamen viele Hinzugezogene, um ihrer auf der Flucht gestorbenen Liebsten und der Vermissten zu gedenken. Deren Namen wurden in großformatigen Gedenkbüchern eingetragen.
Zur Linken hängt an der Kapellenwand ein Coventry-Kreuz. Das Original wurde nach der Zerstörung der Kathedrrale in Coventry aus drei Zimmermannsnägeln zusammengefügt, die einst geholfen hatten, das Deckengewölbe zusammenzuhalten. So wurde aus den Überresten der Zerstörung ein Symbol der Vergebung und des Neuanfangs geschaffen. Es hängt bis heute in der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry. Die Lübecker Mariengemeinde gehört der Nagelkreuzgemeinschaft an, die sich weltweit an vielen Orten für Frieden und Versöhnung ein. Was könnte wichiger sein!
Die Kirchenmaus
Selbstverständlich besuche ich jedes Mal Rosemarie, die Kirchenmaus, um einen Herzenswunsch loszuwerden. Die Maus befindet sich im Chorumgang auf einem von vier großformatigen Kunstwerken aus Kalkstein von Heinrich Brabender aus dem späten 15. Jahrhundert. Das an der nordöstlichen, den Altarraum umschließenden Brüstung angebrachte „Letzte Abendmahl“ zeigt auf der linken Seite am Fuß des rankenden Laubwerks die kleine Maus.
An sie knüpft sich die Legende aus der Zeit um 1200, wonach Lübeck stets die Freiheit bewahren würde, solange die prächtige Kletterrose in einer Nische an der Südwand der Marienkirche blüht. Nachdem jedoch eine Maus ein Nest an der Wurzel der Rose gebaut und diese zerbissen hatte, musste sich Lübeck dänischen Truppen ergeben.
So steht das Steinrelief auch für die Lebensweisheit, dass aus kleinen Übeln großes Unglück entstehen kann.
Du musst Rosemarie, die von den vielen Berührungen der Kirchenbesucher:innen schon ganz schwarz geworden ist, beim Wünschen unbedingt mit der linken Hand streicheln. Sonst klappt’s nicht mit der Wunscherfüllung!
Die Totentanzkapelle und die Zeit
Der Lübecker Maler, Graphiker und Bildhauer Bernt Notke schuf 1463 den Totentanzfries mit 24 geistlichen und weltlichen Figuren vermutlich unter dem Eindruck der Folgen der Pest. 1701 entstand eine 30 Meter lange Kopie des Gemäldes, die 1942 zerstört wurde. Der Zyklus zeigte das mittelalterliche Lübeck und einen Reigen aus 24 tanzenden Paaren, der symbolisierte, dass im Angesicht des Todes alle Menschen gleich sind. Ob arm oder reich, alt oder jung, berühmt oder unbekannt: der Tod war und ist stets gegenwärtig und macht keinen Unterschied.
Dieses Thema greifen auch die von Alfred Mahlau entworfenen 12 Meter hohen Glasfenster in der Kapelle auf. Beide Fenster sind in sieben Ebenen mit jeweils drei Figuren unterteilt. Memento mori. Deprimierend? Für mich keineswegs. Ich fühle mich eher dazu aufgerufen, das Beste aus meinen Talenten zu machen und meine Zeit gut zu nutzen. An diesen Gedanken gemahnt übrigens auch die Nachbildung der 1942 zerstörten Astronomischen Uhr in der Totentanzkapelle. In unseren ZWISCHENSTOPPS hatte ich sie dir bereits einmal vorgestellt.
Die Kemper-Orgel und Dietrich Buxtehude
Kirchenmusik diente der religiösen Andacht und war ein wichtiger Träger kultureller und sozialer Werte. Sie war häufig auch das Zentrum des musikalischen Lebens einer Gemeinde und bot Komponisten die Möglichkeit, ihre Kreativität auszudrücken und zugleich das spirituelle Erleben der Gläubigen zu vertiefen. Die Relevanz der Orgenmusik lässt sich auch daran ablesen, dass Orgelmusik Teil des immateriellen Weltkulturerbes der Menschheit ist.
An St. Marien wirkte Dieterich Buxtehude, der bereits zu Lebzeiten als bedeutender Orgenvirtuose und Komponist galt. Die von ihm 1678 initiierten „Lübecker Abendmusiken“ waren weit über Lübeck hinaus bekannt. Das Werkverzeichnis Buxtehudes weist 275 erhalten gebliebene Nummern aus. 1703 interessierte sich Georg Friedrich Händel für eine Amtsnachfolge als Marienorganist und zum Jahreswechsel 1706-1707 besuchte Johann Sebastian Bach den berühmten Musiker. Zu Fuß war er aus Arnstadt nach Lübeck gepilgert, um Buxtehude zu „behorchen“. Von ihm zu lernen und Inspiration zu finden. Geplant war ein Aufenthalt von 4 Wochen. Bach blieb 4 Monate. Die Legende besagt, dass Bach womöglich sogar Buxtehudes Nachfolge angetreten hätte, wäre damit nicht die Pflicht zur Eheschließung mit Buxtehudes Tochter Anna Margaretha verbunden gewesen, die angeblich „von herbem Charme“ war.
Die Orgel, auf der Buxtehude spielte, wurde 1942 zerstört. Mit 101 Registern und 8512 Pfeifen ist die heute im Gewölbe befindliche Kemper-Orgel aus Teak-Holz eine der größten Kirchenorgeln mit mechanischer Traktur. Die längste Pfeife misst 11 Meter, die kleinen Pfeifen haben nur einige Millimeter Länge. Wenn du im Mittelschiff von St. Marien stehst und hinaufblickst, siehst du nur einen ganz kleinen Teil der Orgelpfeifen.
Die Wandmalereien und ein Skandal
Wandmalereien spielten in den Kirchen des Mittelalters eine zentrale Rolle, besonders für einfache Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten. Diese kunstvollen Darstellungen waren visuelle Predigten und lehrreiche Erzählungen, die den Gläubigen halfen, die wichtigsten Aspekte des christlichen Glaubens zu verstehen. Neben biblischen Szenen wurden auch die Leben der Heiligen dargestellt.
Wandmalereien dienten darüberhinaus zur Vermittlung moralischer Lehren.
Szenen des Jüngsten Gerichts, Höllenqualen und himmlischer Belohnungen erinnerten die Gläubigen an die Konsequenzen ihres Handelns und ermutigten sie zu einem gottgefälligen Leben. Diese Darstellungen waren eindringlich und wirkten oft stärker als Worte.
Das gotische Bild St. Mariens hatte bis 1476 Bestand. Bis auf den Heiligen Christophorus, der heute noch – überarbeitet und erneuert – überlebensgroß an einem der Pfeiler des Langhauses zu sehen ist, wurde die Ausmalung entfernt. Wände und Säulen wurden geweißt und so Raum für barocke Altäre und Epithaphien geschaffen.
Die Hitze des Brandes in St. Marien im März 1942 brachte Malereien von 1330 zum Vorschein, die unter der dicken Schicht Kalktünche verborgen gewesen waren. Bereits ab 1944 begann eine systematische Freilegung und Restaurierung.
Einer der Restauratoren, Lothar Malskat, tat des Guten zuviel: Er gestaltete die Heiligenfiguren im Chor selbst. Ein Kunstband mit Malerei des Mittelalters diente als Vorlage. Nach Fertigstellung bearbeitete er die Bilder mit Sandstein, Puderbeutel und Schwämmen, damit diese möglichst alt aussahen. Zudem signiert er sie meist an versteckter Stelle mit t. f. L. M. (totum fecit Lothar Malskat). 1955 wurde er wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt. Im Langhaus blieben die Überfassungen Malskats erhalten, die in den Chorobergaden gemalten Fälschungen wurden 1957 vollständig abgewaschen.
Nimm dir die Zeit, um durch die Kirche zu schlendern und einen Eindruck des Kircheninneren im 14. Jahrhundert und der damaligen Farbigkeit zu gewinnen. Rot und grün dominieren. Die hellen Wandflächen und Pfeiler des Langhauses überzieht eine Quadermalerei mit roten Fugen. Auch das tiefe Rot der Chorpfeiler zieht sicher deinen Blick auf sich. Und erkennst du die überlebensgroßen Heiligenfiguren im Langhaus unterhalb der Obergadenfenster? Von da, wo du stehst, sehen sie gar nicht so riesig aus, nicht wahr?
Die Epitaphien und das Gedenken
Bis zum März 1942 trug St. Marien ein barockes Kleid. Im Innenraum gab es fast 40 Seitenaltäre und Einzelbildwerke und so viele Epitaphien, dass man die Marienkirche auch als „Ruhmeshalle des Lübecker Patriziats“ bezeichnet hat. Von den 80 barocken Epitaphien – Gedenktafeln reicher Lübecker Bürger, Bürgermeister und Ratsherren – blieben nur wenige erhalten. Aus Marmor und Alabaster besteht das große Epitaph des Kaufmanns Füchting im nördlichen Seitenschiff, das 1633/1634 in Amsterdam gearbeitet wurde. Den nach Füchting benannten Stiftshof in der Glockengießerstraße habe ich dir in einem Artikel bereits einmal näher vorgestellt. Du findest ihn hier. Zum Füchting-Epitaph gehört auch ein prächtiger dreiarmiger Messingleuchter von 1636 mit einer Inschrift.
Leuchter wurden von Privatleuten oder Korporationen gestiftet. Die Leuchter, die du heute noch im Innenraum betrachten kannst, stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Auf einigen erkennst du auf vorgehängten Schilden den Namen und das Wappen der Stifter. Ich mag die vielen Querverbindungen, die einzelne Objekte in St. Marien eng mit Lübecks Geschichte verknüpfen.
St. Marien als Dein Ort
Ich bin gern im Kirchenraum unterwegs und genieße die unterschiedlichen Perspektiven. Es lässt sich gar nicht vermeiden, immer wieder den Blick nach oben zu richten. Mit 38,5 Metern lichter Höhe ist der Innenraum einfach nur überwältigend. So nachvollziehbar ist angesichts der schlanken Strebepfeiler und der Spitzbögen die Motivation der etwa 120 Stifterfamilien und der Baumeister, durch den Kirchbau quasi den Himmel auf Erden zu repräsentieren und ein Gefühl der Nähe zu Gott zu vermitteln.
Faszinierend ist für mich ebenso die technische Innovationskraft der Baumeister. Rund 100 Jahre – etwa zwischen 1250 und 1350 – wurde an der Backsteinbasilika auf dem höchsten Punkt der Lübecker Altstadtinsel gebaut. Wenn du vom Altar nach Norden Richtung Orgel schaust, siehst du sogar, dass der Kirchenboden leicht abschüssig ist. Wahre Pioniere waren damals am Werk! Nicht umsonst ist das Bauhüttenwesen Teil des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO.
Vielleicht magst du dich einfach irgendwo setzen und dem Raumerlebnis nachspüren?
Die wechselnden Lichtstimmungen lassen immer wieder einen anderen Punkt im Raum erstrahlen. Du könntest am Lichterbaum eine Kerze anzünden, um eines lieben Menschen zu gedenken. Und in einer vollkommen schlicht gehaltenen Seitenkapelle bist du eingeladen, (d)einen größten Wunsch zu verschriftlichen und das Papier in ein Kästchen zu werfen. Ich bin sicher, dass es diesen einen Ort im Raum gibt, an dem du Kraft tanken kannst und dich geborgen fühlen wirst. Für dieses Gefühl brauchst du kein kunsthistorisches Verständnis und keinen konkreten Glauben. Nur die Bereitschaft, dich darauf einzulassen.
St Marien ist täglich von 10.00 – 18.00 Uhr geöffnet. Als dein Beitrag zur Finanzierung des Erhalts dieser Kirche und ihrer Kunstschätze wird eine Gebühr von € 4,00, der sog. MarienTaler, erhoben. An verschiedenen Standorten in der Kirche kannst du kostenfrei über QR-Codes in Audio-Sequenzen eintauchen, die detaillierte Informationen vermitteln. Wenn du Lust auf einen kleinen Vorab-Besuch hast, schaue dir unser Video an.
Fast täglich kannst du in St. Marien den herrlichen Klang der Orgel genießen. Das Programm ist hier abrufbar.
Mein Tipp: Zu den mittäglichen Konzerten „Orgelpunkt Zwölf“ ist der Eintritt frei.
Danke Barbara, ich bin in Lübeck geboren und lebe jetzt in Hamburg. Freue mich immer , wenn ich nach Lübeck fahren kann und in meinen Erinnerungen eine zeitlang lebe. Ihr Beitrag ist sehr gut gestaltet und informativ- danke und weiterhin viel Spaß
Danke! Mir geht es genauso: ein Besuch a den Orten, die im Herzen weiterleben, ist jedes Mal eine Freude. Liebe Grüße nach Hamburg
Liebe Frau Schwartz,
Vielen Dank für Ihren schönen Beitrag zur Marienkirche. Kleine Anmerkung: In dem Absatz 05 zu den Wandmalereien schreiben Sie, dass die Malereien in den Chorzwickeln Fälschungen von Lothar Malskat seien und abgewaschen wurden, richtig müßte es heißen in den Chorobergaden, die Malereien in den Chorzwickeln darunter wurden ab 1953 von dem Nachfolger Lothar Schwink „ohne etwas hinzuzufügen, freigelegt,“( Zitat aus „Die Marienkirche zu Lübeck“ von Max Hasse,S. 237) also wohl die einzigen ma. Malereien in St. Marien, die weitgehend original auf uns überkommen sind. mfg.
Oh, das ist ja ein wichtiger Hinweis. Das nehmen wir gern so auf. Danke für das aufmerksame Mitlesen!
Liebe Frau Schwartz,
dies ist meine Lieblingskirche als Lübeckerin. Schon als Kind beeindruckten mich die herabgestürzten Glocken. Dazu die Größe und Höhe der Kirche.
Später dann die wunderbare Akustik, die ich oft dort genießen durfte.
Als ich Ende der 90er Jahre meinen Mann kennenlernte, wuchs mir die Kirche noch mehr ans Herz. Er hat damals bei dem Tischler, der die Hölzer gefertigt hat für die Astronomische Uhr, gelernt. Dort durfte er daran mitwirken. Ist eine wunderschöne Geschichte für uns.
Herzlichen Dank für diesen schönen Blog!
K. Höhmann
Ach, das ist ja eine ganz wunderbare persönliche Verbindung zu St. Marien und eine Bereicherung Ihrer Lebensgeschichte! Es bleibt faszinierend, diese Kirchenraum immer wieder neu zu entdecken. Liebe Grüße an Sie beide!