Mauerstück der Erinnerung

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Dr. Bettina Greiner

Im Hof des Willy-Brandt-Hauses Lübeck steht ein Stück der Berliner Mauer. Es handelt sich um eines der mehr als 45.000 Mauersegmente, die Westberlin auf einer Länge von 184 km vom Ostteil der Stadt und dem Umland brutal abriegelten. Mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 hatte die DDR-Regierung die Teilung der Stadt, Deutschlands und Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig zementiert, das monströse Bauwerk wurde umgehend zum traurigen Symbol des Kalten Krieges.

Mauerstück der Erinnerung in Lübeck im Willy-Brandt-Haus

Demokratie ist Lebendig

Nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer in kürzester Zeit abgebrochen. Mehr als 250 Mauersegmente wurden seither an Orte in aller Welt verbracht, wo sie – wie im Hof des Willy-Brandt-Hauses Lübeck – an die Blockkonfrontation und ihr glückliches, weil gewaltfreies Ende erinnern.

Doch die Mauerstücke erinnern nicht nur an eine seit mehr als 30 Jahren vergangene historische Epoche, in der Willy Brandt als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler und späterer Friedensnobelpreisträger eine bedeutende Rolle spielte. Aber um ihn soll es an dieser Stelle nicht gehen, und auch nicht um die politischen Weichenstellungen, die er Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR gegen starke Wiederstände einleitete und damit auf lange Sicht die – wie er es nach dem Mauerfall nannte – Neuvereinigung Deutschlands ermöglichte.

Mut

Stattdessen soll es um den Mut all jener Menschen in der DDR gehen, die sich gegen Ende der 1980er Jahre den Machthabern widersetzten. Denn auch daran erinnern die Mauerstücke: An den Mut und die Unbeirrbarkeit, mit der sich schließlich Zehntausende an den Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 in Leipzig, Dresden und andernorts in Ostdeutschland beteiligten, mit denen sie maßgeblich zur – in Ost wie West – unerwarteten Implosion der DDR beitrugen. Bei jeder dieser Demonstrationen lief die Angst vor einer gewaltsamen Reaktion des Staates mit, vor einer „chinesischen Lösung“, wie es in Anlehnung an das Massaker hieß, mit dem die Pekinger Staatsführung Anfang Juni 1989 zivilgesellschaftliche Forderungen nach demokratischen Reformen blutig im Keim erstickt hatte.

Mauerstück der Erinnerung in Lübeck im Willy-Brandt-Haus


Doch auch unabhängig von dieser Drohung kostete es Mut, in der DDR für politische Selbstbestimmung einzustehen. Das System beantwortete jeden noch so kleinen Eigensinn mit menschenverachtender Gängelung oder Einschüchterung, Forderungen nach demokratischen Freiheiten wurden sanktioniert, mal mit Berufsverboten, mal mit Inhaftierung. Und doch haben sich viele Menschen in der DDR damals über die staatliche Willkür hinweggesetzt und ihre politischen Rechte eingefordert – allem voran freie und geheime Wahlen, freie Meinungsäußerung, freie Wahl des Wohnorts, des Berufs, freie Ausübung der Religion.

Der Unterschied zu gewissen Demonstranten heute könnte größer nicht sein, auch daran erinnern die Mauerstücke.

Politische Selbstbestimmung ist nicht mit persönlicher Selbstverwirklichung zu verwechseln.

Demokratische Freiheiten und Menschenrechte sind ein Gemeingut, sie funktionieren nicht nach dem Selbstbedienungsprinzip, sondern in Abwägung und mit der gesamten Gesellschaft im Blick, so schwer das mitunter individuell zu ertragen sein mag. Andernfalls drohen sie uns verloren zu gehen.

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Dr. Bettina Greiner

Dr. Bettina Greiner leitet das Willy-Brandt-Haus Lübeck, einer der drei Standorte der überparteilichen Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Die Historikerin lebt und arbeitet seit 2018 in der Hansestadt Lübeck, der ehemals größten westdeutschen Stadt an der deutsch-deutschen Grenze. Die Grenznähe und der Kalte Krieg haben Erinnerungsspuren in der Stadt hinterlassen, unter anderem auf fast allen Brücken, die zur Altstadt führen: Was wir harmlose Gullideckel aussieht, sind tatsächlich sogenannte Stecksperr-Anlagen, die um 1983 angelegt wurden. Im Fall eines sowjetischen Angriffs sollten sie die Altstadtinsel abriegeln.

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